Landesmitgliederversammlung der Grünen am 24.10.2020

Marc Oliver Gutzeit, Sprecher Grüne Fränkisch-Crumbach, berichtet vom bislang größten digitalen Parteitag in Deutschland: es ist unsere Grüne LMV in Karben

Was noch vor einem Jahr undenkbar war, ist auf einmal Realität. Eine Landesmitgliederversammlung komplett online. Wie funktioniert das und wie fühlt sich das aus Teilnehmer*innen-Sicht an? Das habe ich mich im Vorfeld gefragt.

Vor einem Jahr durfte ich als Delegierter der Odenwälder Grünen am Bundesparteitag, der Bundesdelegiertenkonferenz in Bielefeld, teilnehmen.  Eine große Halle und viele Menschen. Stimmung und Gespräche, Abendprogramm und vieles mehr. Eine typische politische Veranstaltung.

Ein Jahr später sitze ich ab 10:45 Uhr vor dem Laptop. Neben mir eine Tasse Kaffee und ein Wasser. Ich sitze alleine am Schreibtisch – und bin doch nicht alleine. Bis zu 800 weitere Menschen sitzen wie ich in ganz Hessen zuhause vor dem Bildschirm.  Die hessischen Grünen sind nämlich basisdemokratisch organisiert. Im Vorfeld der Landesmitgliederversammlung wurden alle über 8000 hessischen Mitglieder eingeladen. Dabei ging es nicht nur darum, dem Geschehen online folgen zu können. Nein, alle Eingeladenen waren auch stimmberechtigt. Um vom Stimmrecht Gebrauch machen zu können, reichte eine Anmeldung mit den zuvor erhaltenen Zugangsdaten. Ein kurzer Video- und Tontest, und Anmeldung zur Teilnahme nahmen keine fünf Minuten in Anspruch.

Durch die Versammlung, die von Karben aus technisch betreut wurde, führten Miriam Dahlke und Felix Martin. Wie erfahrene Medienprofis moderierten sie dabei nicht nur die kleinen technischen Pausen die nach den Anfangsschwierigkeiten immer seltener auftraten. Die beiden führten professionell durch die Veranstaltung, und gerne hätte ich zwischendurch geklatscht und damit meiner Anerkennung Ausdruck verliehen. In Karben saßen neben einem Team aus Techniker*innen des durchführenden IT-Unternehmens auch der Parteivorstand und die Antragskommission.  Als Mitglied der Antragskommission waren wir Odenwälder durch unseren Michelstädter Bürgermeisterkandidaten Jonas Schönefeld vertreten.

Gemeinsam.Zukunft.Gestalten

Inhaltlich standen die Kommunalwahlen oben auf der Tagesordnung. Unter dem Motto „Kommunalwahl 2021: Gemeinsam.Zukunft.Gestalten“ ging es um den Aufbruch in ein soziales und ökologisches Jahrzehnt. Global denken – lokal handeln! Mit diesem Slogan wurde mehrfach erklärt: Wir sind bereit für die Kommunalwahlen überall in Hessen. Wir Grüne wollen in den großen Städten stärkste Kraft werden und bei den Kommunalwahlen insgesamt als zweitstärkste Kraft abschließen.

Beschlossen wurden im Folgenden mit großer Mehrheit die Anträge: 6.1, Hygieneartikel für Mädchen und junge Frauen im Schulbetrieb kostenlos zur Verfügung stellen; 6.2, Ein zeitgemäßes Tariftreue- und Vergabegesetz (HVTG) trägt zur sozial-ökologischen Transformation bei; 6.6 Rechtsextreme Strukturen in der Polizei und Gesellschaft zerschlagen.

Danach behandelten mehrere Anträge den Themenkomplex um die A49. Am Ende wurde der gemeinsame Antrag des Landesvorstandes und einiger Kreisverbände mit drei Änderungsanträgen beschlossen.

Die Diskussionen und Beiträge zeigten deutlich, in welchem Dilemma wir Grüne uns in Hessen dabei befinden. Wirklich niemand wollte und will die A49 bauen und doch gilt es zu akzeptieren, dass alle rechtlichen Möglichkeiten, dies zu verhindern, ausgeschöpft sind. Tarek Al-Wazir betonte, dass die Grünen in Hessen in Regierungsverantwortung kamen, als das Planfeststellungsverfahren bereits abgeschlossen war. Wenn wir Grüne weiter an der Verkehrs- und Energiewende arbeiten wollen, so Tarek, brauchen wir dafür weiterhin Regierungsverantwortung.

Die A 49 ist ein antiquiertes Projekt aus dem Betonzeitalter

So sympathisch auch mir die Idee des zivilen Ungehorsams unseres Verkehrsministers ist, so wenig wirksam ließe sich damit das Projekt noch stoppen. Auch der Verweis auf Joschka Fischers Ultimatum an die Koalition 1985 und die Rücknahme der Genehmigung des Hanauer Nuklearunternehmens Nukem, die zum Bruch der damaligen Koalition geführt haben, hilft dabei nicht weiter. Wir gäben alle anderen Projekte auf, die wir nur umsetzen können, wenn wir in der Regierungsverantwortung bleiben. Und das, ohne am Bau der A49 etwas zu ändern. Einzig der Bund kann dieses und andere unsinnige Verkehrsinfrastrukturprojekte noch stoppen. Dies im Bundestag noch ein weiteres Mal anzustoßen, versprach Annalena Baerbock, die sich mit einer Videobotschaft zu Wort meldete.

Wie wichtig uns Grünen das Thema Wald ist, bekräftigte Frank Diefenbach. Unser Odenwälder Landtagsabgeordneter ist zuständig für das Thema Wald. Die Rodung der 80 Hektar des Dannenröder Forstes ist durch nichts zu rechtfertigen und auch nicht zu kompensieren, stellte Frank fest. Trotzdem wies er darauf hin, dass die hessische Landesregierung im Rahmen des 12-Punkte-Programms 10% des hessischen Staatsforstes, das sind 31.000 Hektar, in Naturwald umwandelt.

Die Auseinandersetzungen zu diesem Themenkomplex zeigten auch: Wir Grüne sind streitbar in respektvollem Ton.

Der Antrag 6.4 mit dem Titel: Keine ökologische Zerstörung im Koalitionsvertrag festschreiben, fand keine Mehrheit. Die Idee, Verkehrsinfrastrukturprojekte künftig nicht mehr in einem Koalitionsvertrag festzuschreiben, wenn sie die Zerstörung von FFH-Schutzgebieten und Dauermischwäldern zur Folge hätten, ist dem Grunde nach gut. Der Antrag unterschied allerdings nicht zwischen Straßen- und Schienenbauprojekten. Und ein solch pauschaler Beschluss hätte zu einer gefährlichen Handlungsunfähigkeit bei der dringend notwendigen Verkehrswende geführt.

Die Abschiedsworte sprachen Sigrid Erfurth und Philip Krämer gemeinsam. Mit grünen Masken stellten sie noch einmal die riesige Gemeinschaftsleistung aller an dieser Mitgliederversammlung beteiligten heraus. Und Philip machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Kontakte fehlten. Die Party nach dem Parteitag, das versprach er, die gibt es nach Corona!

Wie geht es nach Corona weiter?

Die Gefahr, die durch die unkontrollierte Ausbreitung von Corona aus geht, betrifft viele Bereiche unserer Gesellschaft und natürlich auch uns als Grüne. Veranstaltungen mit hunderten oder tausenden Mitgliedern sind zurzeit undenkbar. Deshalb war die Entscheidung für eine Online-Veranstaltung absolut richtig.

So groß die akute Gefahr durch Corona zurzeit ist, sie wird nicht von Dauer sein. Dieser Virus wird überwunden werden. Und doch zeigt sich hier, dass es möglich ist, sehr schnell weitreichende gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen.

Die Gefahr des Klimawandels ist noch nicht so konkret spürbar. Die Gefahr für unsere Gesellschaft(en) und die Lebensbedingungen auf der Erde sind dabei jedoch von ganz anderer Qualität. Die Geschwindigkeit der Veränderung unseres Handelns und Verhaltens steht dabei in keinem Verhältnis. Wir Menschen scheinen die Gefahr nicht zu erkennen, weil sie für uns als Individuen nicht akut ist. Tatsächlich ist der Klimawandel die viel größere Gefahr und Herausforderung für die Menschheit.

Dieses Missverhältnis zwischen einer akuten Bedrohung des Individuums und einer sich schleichenden Zerstörung der Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen, gilt es zu würdigen. Der Klimawandel braucht unsere Aufmerksamkeit und wir müssen endlich wirksame Maßnahmen ergreifen, um gegen zu steuern.

Für die riesige Aufgabe des Gegensteuerns brauchen wir alle, die erkannt haben, was auf dem Spiel steht. Deshalb ist es so wichtig, die langfristigen Ziele im Blick zu behalten und sich nicht wegen eines Autobahnteilstücks gegenseitig zu demontieren. Grüne, Fridays und alle anderen Mitstreiter*innen brauchen ihre Kräfte für die Langstrecke. Ein misslungener Zwischensprint sollte uns dabei nicht vom Weg abbringen.

Ob wir auch ohne Corona eine komplette Mitgliederversammlung online abgehalten hätten? Vermutlich nicht. Sicher kann dieses Format persönliche Treffen und Auseinandersetzungen nicht komplett ersetzen. Es kann aber dazu beitragen bei vielen kleineren Besprechungen, die normalerweise als Präsenzveranstaltungen stattgefunden hätten, CO2 einzusparen. Und das ist mehr als ein netter Nebeneffekt. Wie das geht, haben wir bereits gezeigt.