Grüne: Wege aus der Corona-Krise

Der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen erklärt zu möglichen Wegen aus der Corona-Krise:

Seit Wochen befindet sich unser Land, unsere Gesellschaft in einer nie gekannten Ausnahmesituation, die uns alle fordert. Wir haben intensiv über die notwendigen Maßnahmen und ihre Folgen, über die Verhältnismäßigkeit und Auswege aus dem Shutdown diskutiert. Als Bundesvorstand sind wir im sehr engen Austausch mit der Bundestagsfraktion und unseren Grünen Landern, die in ihren Koalitionen vor Ort gerade Großartiges leisten.

Wenn nun am 15. April die Bundesregierung und die Ministerpräsident*innen erneut über das weitere Vorgehen beraten, sind uns folgende Punkte besonders wichtig.

Eine gemeinsame Kraftanstrengung

Wir haben in einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung und einer ungeheuren Solidarität der Menschen in den letzten Wochen erreicht, dass unser Gesundheitssystem der Corona-Virus-Pandemie standhält und ein massiver Anstieg von schwer Erkrankten und Toten verhindert wurde. Die Infektionskurve verlangsamt sich aufgrund der starken Kontaktbeschränkungen stetig. Allerdings ist der gegenwärtige Shutdown nicht lange durchhaltbar, sozial nicht, ökonomisch nicht und was die Einschränkung von Bürgerrechten betrifft, ebenso nicht.

Eine wirksame Schutzimpfung oder eine breit anwendbare Therapie ist noch nicht absehbar, so dass wir in den nächsten Monaten weiterhin mit dem Virus zu kämpfen haben werden und nicht zu einem 1 : 1 Vor-Corona Zustand zurückkehren können. Um gemeinsam über diese Zeit zu kommen und angesichts der Verlangsamung der Infektionskurve und der Steigerung der Intensivkapazitäten in den Krankenhäusern gilt es nun, in eine zweite Phase der Bekämpfung einzusteigen, wie das auch die Nationalakademie Leopoldina unterstreicht.

Wir erwarten, dass die Bundesregierung und die Länder in der Ministerpräsidentenkonferenz am 15. April Eckpfeiler für eine solche zweite Phase setzen. Es braucht eine jeweils am aktuellen Risiko orientierte modulare Strategie, die das Virus zielgerichteter bekämpft und eine schrittweise Lockerung von Beschränkungen mit effektivem Gesundheitsschutz verbindet. Diese muss auf transparenten Kriterien beruhen und einen klaren Fahrplan beinhalten, damit die Vorbereitungen für den Übergang in Verwaltungen, Unternehmen und anderen Organisationen unmittelbar beginnen können und wir nach dem 19. April in diese zweite Phase der Bekämpfung eintreten können, die erste Lockerungen beinhaltet.

Eine solche Strategie orientiert sich am Ansteckungs- und Erkrankungsrisiko und richtet ihre Maßnahmen entsprechend aus. Sie hat die Auswirkungen einzelner Lockerungen intensiv im Blick und muss in der Lage sein, diese zu korrigieren. Zugleich kümmert sie sich gezielt um die sozialen Gruppen und Branchen, für die diese Erleichterungen noch nicht gelten können.

Eine modulare Strategie schließt eine gewisse Fehlertoleranz aller politischen Akteure untereinander mit ein. Neue Forschungsergebnisse und repräsentative Studien müssen schnell und transparent von der Bundesregierung und dem Robert-Koch-Institut in die Abwägung mit einbezogen werden; wissend, dass die Datenlage weiter ungenügend ist und die regionalen Unterschiede zwischen Ballungsgebieten und dünn besiedelten Räumen zum Teil erheblich sind. Beim kontinuierlichen Monitoring sind stärker als bisher die Zahlen zu Hospitalisierung, den Intensivpatient*innen und der Auslastung der Krankenhäuser einzubeziehen und sollten regelmäßig veröffentlicht werden. Entscheidend ist, dass Erkrankte weiterhin eine adäquate medizinische Versorgung erhalten, das Gesundheitssystem der Pandemie standhält und besonders vulnerable Gruppen geschützt sind.

Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit stets überprüfen

Das grundgesetzliche Gebot der Verhältnismäßigkeit bedeutet, die verfügten staatlichen Maßnahmen stetig auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. Die Verhältnismäßigkeit ist nicht nur im Lichte der Logik eines maximalen Infektionsschutzes zu prüfen. Neben der virologisch-medizinischen Betrachtung der Pandemie sind die drastischen Grundrechtseinschränkungen sowie die mittelbaren Auswirkungen der Verbote und deren Folgen zu berücksichtigen.

Diese gehen weit über die Wirtschafts- und Wohlstandseinbußen hinaus, die bereits für sich allein genommen massiv sind: Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und Rezession werden unser Land umso härter treffen, je länger der Shutdown anhält. Durch die soziale Isolation und eng verbunden mit den volkswirtschaftlichen Kosten entstehen enorme gesundheitliche, psychische und soziale Schäden: Der Anstieg an häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, steigende gesundheitliche und psychische Probleme (wie Depressionen, Abhängigkeiten, Angstzustände, Suizidversuche), gesundheitliche Folgen, weil Operationen aufgeschoben oder Behandlungen zurückgestellt werden, Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut, Vereinsamung älterer Menschen und Pflegebedürftiger. Hinzu kommen eine Verringerung von Bildungschancen gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Familien und die Kosten unterbleibender Bildungsinvestitionen, weil Schulen und Universitäten geschlossen sind. Der Berufseinstieg für junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt wird erschwert.

Kurzum: Die Corona-Krise verschärft die soziale Spaltung deutlich. Die Destabilisierung sozialer Strukturen kann zu einer massiven Schädigung Betroffener und ihrer Familien und der Gesellschaft insgesamt führen. Diese Folgen und Gefahren sind bei der Entscheidung über die weitere Bekämpfung der Pandemie ebenso zu berücksichtigen wie das Gebot des Infektionsschutzes.

Für kommenden Monate gelten besondere Anforderungen an den Gesundheitsschutz, die kontinuierlich aufrecht zu erhalten bzw. zu verbessern sind.

  • Die stete Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Infektionsgrad und Ansteckungsgefahr sowie den gesellschaftlichen Auswirkungen.
  • Ein kontinuierliches und transparentes Monitoring der verfügbaren medizinischen und krankenhäuslichen Kapazitäten und Mechanismen der Verteilung von Patienten auf freie Plätze.
  • Die regionale und überregionale Koordination der Beatmungskapazität mit weiterem Auf- und Ausbau einer IT-basierten Struktur, Benennung von Schwerpunktzentren, Stabilisierung des bedarfsgerechten Ausbaus.
  • Die Einrichtung von “Corona-Kliniken“ in Ballungsgebieten und damit die weitgehende Trennung von Infizierten und nicht Infizierten.
  • Die gemeinsame europäische Steigerung der Produktion von und Ausstattung mit Schutzkleidung und -masken in Einrichtungen des Gesundheitswesens, Pflege- und Altenheime (Personal und Patienten).
  • Die Sicherung von Produktionskapazität für Impfstoffe und Medikamente in Europa
  • Koordinierte, großflächige, repräsentative Testungen zur Überwachung der Ausbreitung des Erregers, zur gezielten Identifizierung von Infizierten und ihrer Kontaktpersonen und zur Beobachtung des Anstiegs der Immunität in der Bevölkerung. Tests sollten übergangsweise auch außerhalb akkreditierter medizinischer Labore möglich sein, (z.B. in veterinärmedizinische Einrichtungen und staatliche und private Forschungseinrichtungen), aber mit vollständig validierten und kontrollierten Verfahren.
  • Weiteres Hochfahren der Kapazitäten der Gesundheitsämter

Grundmaßnahmen für die zweite Phase

  • Für alle Schritte der Lockerung gilt, dass Hygienemaßnahmen (wie Händewaschen, Abstand, Hustenetikette) langfristig unerlässlich sind. Physical Distancing kann die Verbreitung des Erregers zwar nicht völlig verhindern, aber wirksam eindämmen und sollte daher als gelebte Alltagskultur weiter beibehalten werden. Es bedarf der umfassenden öffentlichen Information und Schulung zu den erforderlichen Abstands- und Hygienemaßnahmen
  • Der flächendeckende Einsatz von Mund-Nasen-Schutz reduziert das Risiko der Ausbreitung des Virus. Eine schrittweise Lockerung der Maßnahmen sollte daher mit einer Empfehlung zum flächendeckenden Tragen einhergehen. Entsprechend müssen die Produktion und Verteilung von Masken unmittelbar und deutlich verstärkt und regulatorische Hürden gerade auch mit Blick auf selbstgenähten Mund-Nasen-Schutz für den privaten Gebrauch ausgesetzt werden, bis ausreichende Mengen aus professioneller Produktion vorhanden sind. Medizinischer Mundschutz muss in erster Linie medizinischen und Pflegefachkräften vorbehalten sein.
  • Unverzügliche Einsatz einer freiwilligen Tracking-App zur anonymisierten Warnung von Kontaktpersonen im Fall einer Infektion
  • Der Schutz von vulnerablen Gruppen durch massive hygienische Schutzmaßnahmen in Einrichtungen für Gesundheit und Pflege, durch umfangreiches Testen von Kontaktpersonen, durch erweiterte Kapazitäten von Hilfen für Personen aus Risikogruppen und den Ausbau psychotherapeutischer Hilfen und digitaler Angebote. Schutz bedeutet allerdings nicht „Umkehrisolation“. Auch für Risikogruppen gilt das Recht auf Selbstbestimmung. Allen Menschen aus Risikogruppen (Vorerkrankung, 60 Jahre und älter) sollte stattdessen freigestellt sein, sich zum persönlichen Schutz weiterhin zu Hause, im Homeoffice mit Lohnfortzahlung aufzuhalten. Dafür müssen die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden.

Kriterien für eine regionale und sektorale Differenzierung der Lockerungen

Der Verlauf der Epidemie hat starke regionale Unterschiede. Entsprechend sind auch regional unterschiedliche Maßnahmen notwendig. Allerdings war die Vielstimmigkeit der letzten Tage und Wochen verwirrend und kein vertrauensstiftendes Beispiel.

Daher sollten alle Maßnahmen auf bundesweit einheitlichen, nachvollziehbaren Kriterien beruhen, damit die Regelungen für alle schlüssig und verständlich sind, und somit auf möglichst breite Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen und eingehalten werden.

Für die Lockerung von Maßnahmen in den einzelnen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen sollten aus unserer Sicht folgende Kriterien gelten:

  • geringe Ansteckungs- und Erkrankungsgefahr (Sektoren mit weniger vulnerablen Gruppen bzw. Möglichkeit zur Durchsetzung der Abstandsmöglichkeiten und effektivem Arbeitsschutz z.B. durch Hygienemaßnahmen und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz)
  • Härten für das gesellschaftlichen Leben, gerade mit Blick auf besonders Schutzbedürftige wie Kinder, sozial Benachteiligte, Kranke, Ältere und Pflegebedürftige
  • die Relevanz des jeweiligen Bereiches der Wirtschaft (Sektoren mit hoher Wertschöpfung)
  • Komplementaritäten zwischen Sektoren (beispielsweise können viele Menschen mit Kindern nicht zur Arbeit gehen, wenn Kindertagesstätten geschlossen sind)

Für Branchen und ihre Beschäftigten, die auf absehbare Zeit geschlossen oder stark beeinträchtigt bleiben werden (z.B. Großveranstaltungen), braucht es über den beschlossenen Schutzschirm hinaus zielgerichtete mittel- und langfristige Hilfen.

Prioritäten bei der Lockerung

Nach heutigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der oben genannten Kriterien halten wir die Lockerung in folgenden Bereichen für besonders dringend (immer unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsgeboten):

  • Die Wiederaufnahme von sozialen Hilfestrukturen, psychosozialen Dienstleistungen und sozialen Einrichtungen (offene Treffs in sozialen Brennpunkten, Frauenberatungsstellen, Kinder- und Jugendhilfe, Tafeln) ist unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsvorgaben und Ausstattung Mund-Nasen-Schutz dringend geboten, um die schlimmsten sozialen Härten abzumildern und weil viele der Betroffenen über digitale Angebote gar nicht erreicht werden. Auch die Sterbebegleitung muss, wo noch nicht geschehen, ermöglicht werden. Sterben ist nicht aufschiebbar.
  • Geschäfte und Betriebe des Einzelhandels, die die Möglichkeit des Abstands zwischen Menschen organisieren und garantieren können, sollten zügig wieder geöffnet werden. Nicht die Betriebsgröße ist entscheidend, sondern die Möglichkeit Abstand zu halten. Zudem müssen am Eingang Desinfektionsmittel und Einweghandschuhe bereitgestellt werden und das Tragen von Nasen-Mund Bedeckung verpflichtend sein.
  • Die Arbeit in Industriebetrieben und industrienahen Dienstleistungen (die größtenteils freiwillig geschlossen haben), deren Ausfall nicht kurzfristig überbrückt werden kann, und in denen das Einhalten von Abständen und von weiteren Hygiene- und Schutzstandards gut realisierbar ist, sollte wieder anlaufen bzw. weiter laufen.
  • Bei der Öffnung von Schulen braucht es ein stufenweises Vorgehen und eine gewisse Vorbereitungszeit, um Hygiene sicherstellen zu können, doch auch hier ist die Wiederaufnahme dringend geboten. Abschlussklassen sollten als erste wieder in die Schulen. Bei allen anderen sollte es einen gestaffelten Wiedereinstieg geben. Mit Blick auf die soziale Dimension ist es aus unserer Sicht sinnvoll, die Öffnung der Schulen mit den unteren Jahrgängen (Klasse 1-6) zu beginnen, weil in diesen Jahrgängen ein Selbstlernen am schwierigsten ist, der soziale Druck zu Hause am größten, die Bildungsgerechtigkeit am stärkste eingeschränkt ist und Eltern, die daheim betreuen müssen, ihrer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen können. Der dänische Weg könnte hier Vorbild sein.
  • Wie vom Grundschulverband vorgeschlagen, ist zum Beispiel die Arbeit in Halbgruppen denkbar. Dies hieße zwar eine geringere Präsenzzeit pro Schüler*in, aber würde Abstände ermöglichen. Dies ermöglicht auch in ländlichen Regionen den Schülertransport unter den Abstandsauflagen zu organisieren. Individuell sollte zuvor geklärt werden, ob sich darunter Risikopersonen befinden, was entsprechende Vorsichtsmaßnahmen nötig macht.
  • Solange Kinder noch nicht wieder komplett in der Schule sind, sollten Lehrkräfte zu ihren Schüler*innen durch individuelle Besuchstermine oder Kleinstgruppen in der Schule persönlichen Kontakt aufnehmen, um Hausaufgaben anzuschauen, Lern – oder andere Probleme zu erkennen, die psychosoziale Isolation aufzuheben und soziale Härten abzufedern. Zudem sollten alle Schüler*nnen, die noch im Homeschooling sind, mit digitalen Endgeräten inkl. technischer Voraussetzung ausgestattet werden, um für alle die Teilnahme am E-Learning überhaupt zu ermöglichen.
  • Kitas sollten schrittweise geöffnet werden, beginnend mit Kindern, bei denen ein Elternteil in systemrelevanten Berufen arbeitet (wie das mancherorts schon der Fall ist), dann gerade an Orten mit geringen Infektionen weitere Kinder mit beispielsweise Betreuung pro Kind nur für max. 4 Stunden, so dass die Kinder zwischen vormittags und nachmittags aufgeteilt und so die Gruppen verkleinert werden können. Individuell sollte zuvor geklärt werden, ob sich darunter Risikopersonen befinden, was entsprechende Vorsichtsmaßnahmen nötig macht.

Europäisch abgestimmten Mechanismus zu Grenzöffnungen

Es wird in absehbarer Zeit keinen Zustand wie vor der Krise geben können. Aber wir sollten alles daran setzen, bei Aufrechterhaltung des Gesundheitsschutzes schrittweise wieder ein öffentliches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen.

(Anna-Lena Baerbock und Robert Habeck, B90/Die Grünen Bundesverband)

Zur Ergänzung hier die Stellungnahme der Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften